Halbzeit, 0:5 hinten

Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, an dieser Stelle mal etwas über ein paar achtsame Erkenntnisse aus den letzten Monaten zu schreiben. Über die persönliche Energie und wie man sie einsetzt. Was gibt, was zehrt. Aber ganz ehrlich: Das muss warten. Ich muss gerade erst noch eine Unterhaltung weiterführen, denn es gibt wieder einiges zu sagen. Ja, genau, brauchst gar nicht so dumm zu gucken 2020, du bist gemeint.

Vor ein paar Monaten hatte ich dir noch guten Willen unterstellt, mich quasi mit dir solidarisiert. Wir hatten halt beide einen Fehlstart, dachte ich da. Wer wird denn diesem unschuldigen, frischen Jahr nach drei Monaten etwas Böses unterstellen wollen. Mittlerweile werden die Tage schon wieder kürzer, und was soll ich sagen?

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Alles gesagt. Quelle: Ralph Ruthe.

Druck im Kessel

Corona dominiert zwar nicht mehr jede Tagesschau und kriegt auch keinen 15-minütigen Brennpunkt zur Prime Time spendiert. Aber ist es deshalb alles vorbei? Die aktuellen Zahlen lassen eher vermuten, dass dieses heimtückische 2020 da noch was in Petto haben könnte. Dieses Jahr verlangte bislang aus den unterschiedlichsten, aber auch aus den gemeinschaftlichsten Gründen sehr viel ab. So viel, dass bei manchen die Sicherungen komplett durchbrennen. Wie beispielsweise am letzten Wochenende in Stuttgart.

Schwabenländle, was geht? Mehrere hundert (!) Leute ziehen vandalierend und plündernd durch die Königsstraße. Mutmaßlich aus der „Partyszene“ – wer oder was diese Partyszene sein soll, konnte mir bislang auch kein Stuttgarter beantworten. Vielleicht war es am Ende einfach wirklich der immense Druck der letzten Wochen, der sich dann gerade in einer sehr pietistischen Stadt wie Stuttgart mit relativ wenig öffentlichem Raum entladen musste. Da war wohl Druck im Kessel (#Schenkelklopfer). Alan Posener1 fand in der Zeit zu der Frage, warum gerade Stuttgart, Erklärungen, die mich frappierend an meinen eigenen Beitrag von vor zwei Jahren erinnerten (Wohn-Haft in Stuttgart). Nur bekam er es tatsächlich hin, noch trostloser über Benztown zu urteilen, als ich es vermochte. Krass, da ging ja mir schon fast der Lokalpatriotismus als Teilzeit-Schwabe hoch. Bleibt trotzdem die Vermutung, dass da vielleicht an dem ein oder anderen Punkt was dran sein könnte.

#BlackLivesMatter

Über die Ursachen wird immer noch spekuliert (offenbar also auch von mir). Neben dem Corona-Psycho-Desaster werden oft auch die Proteste in den USA als Vorbild genannt. Das ist auf der einen Seite sehr kurz gesprungen und total unangebracht, auf der anderen Seite: Meine Fresse. Ich kann die Wut jedes Schwarzen in den USA verstehen. 8 Minuten. 46 Sekunden. „I can‘t breathe“. Mir wird schlecht wenn ich an dieses Video denke. Und am Ende geht es gar nicht um George Floyd, um eine Helden- oder Märtyrer-Stilisierung. Es geht schlicht und ergreifend darum, dass Rassismus so krass im amerikanischen System verwurzelt ist und wohl jeder Schwarze Amerikaner damit schon Erfahrung machen musste.

Die sollen jetzt aber mal nicht so übertreiben? Kann nur jemand sagen, der das Privileg hat, über Rassismus zu reden und ihn nicht zu erleben. Wie Trevor Noah das so schön zusammengefasst hat2: Die Proteste und Plünderungen der Protestbewegung schockieren so sehr, weil sie davon zeugen, wie die Menschen dort den Gesellschaftsvertrag der zivilen Ordnung aufkündigen. Ja, aber das gibt nur einen Einblick in das Leben von Menschen, die Tag für Tag erfahren müssen, dass dieser Gesellschaftsvertrag für sie anscheinend sowieso nicht gilt. 

8 Minuten und 46 Sekunden auf dem Nacken eines Menschen zu knien, der am Ende nach seiner toten Mutter ruft. Das ist leider das Sinnbild dafür. Wer mal 27 Minuten Zeit hat, schaut sich „8:46“ von Dave Chappelle an3, der bislang immer sehr lustige Comedy zu dem Thema gemacht hat (bei der einem das Lachen beim zweiten Gedanken gerne mal stecken geblieben ist).

All Cops are… ans Gesetz gebunden

Und in Deutschland? Na klar haben wir auch Rassismus. Und, liebe BILD-Leser: Dass es nicht so krass ist wie in den USA ist verdammt nochmal kein Grund, darüber nicht zu diskutieren. Gleiches gilt für Polizeigewalt (G20, anyone?). Da habe ich die Tage mit einem alten Bekannten und offenbar mittlerweile Polizisten auf Facebook versucht drüber zu diskutieren. War schwierig. Auf das Angebot, die Diskussion doch mal am Telefon weiterzuführen, ist er leider nicht eingegangen. Ich finde diesen Corps-Geist bei staatlichen Organisationen mit Gewaltmonopol einfach ganz ganz schwierig. 

Da muss man halt schnell genau hingucken. Denn, die Polizei hat sich verdammt nochmal rechtsstaatlich zu verhalten, egal wie sehr es die „Chaoten“ nicht tun. Wir sind ja nicht auf dem Spielplatz: Der war aber auch gemein, deswegen bin ich das mit meinem Gummiknüppel, meinem Wasserwerfer, meiner Dienstwaffe jetzt auch. Verhältnismäßig, ja gerne. Alles drüber gehört untersucht, sanktioniert und vor allem schonungslos in der Öffentlichkeit diskutiert. Ich finde es zunehmend befremdlich, dass auf diese recht offensichtliche Forderung immer so gereizt reagiert wird. Und um in die ganze Geschichte mit der taz-Kolumne abzutauchen fehlt mir jetzt hier echt der Platz (und die Lust). 

Schön zu wissen, dass die meisten Polizisten, die ich so kenne, echt ganz cool sind. Shout out an die Festival-Assis!

CDU macht, was CDU eben macht

So, noch was? Ach ja, Philip Amthor ist mutmaßlich korrupt. Und der von und zu Guttenberg steckt auch mit drin. Sind halt CDU-Politker. Was willste machen. Was willste anderes erwarten. Und da wundert sich die CDU ernsthaft, dass die BILD-Leser nicht mehr die CDU, sondern die Nazis von der AfD wählen. An dieser Stelle herzlichen Glückwunsch zum 75-jährigen Parteigeburtstag.

Weitere Katastrophen

Werder-Desaster
Was in 2020 so alles nicht läuft (Symbolbild).

Mir hat das viele Joggen im Lockdown den Innenmeniskus komplett ruiniert, OP diesen Sommer notwendig. Wunderbar. 

Werder steigt heute ab.

Mein Auto hat im ersten Anlauf keinen TÜV mehr gekriegt.

Oh, und ich hatte Wirecard-Aktien im Wert eines kleinen Bausparvertrags. Bei denen sind in der Bilanz mal eben 1,9 Milliarden Euro erfunden worden. Bei einem DAX-Konzern. Und die Finanzaufsicht der BaFin hat letztes Jahr lieber die Journalisten verklagt, die auf Unregelmäßigkeit hingewiesen hatten. Damit hat sich ein erfolgreiches deutsches Tech-Startup (klingt fast nach Oxymoron) in aller kürzester Zeit selbst erledigt. Nochmal: Ein DAX-Konzern. Und da wundert man sich über die Aktienkultur in diesem Lande…

Das Erstaunliche: Ich kann eigentlich nur über all das Lachen. Und ich hoffe so sehr, dass die meisten meiner Mitmenschen das auch bald können werden. Ich habe das Privileg, dass es mir immer noch wunderbar gut geht. Dass ich schon viel Schlimmeres durchgemacht habe. Deswegen kann ich diesem Jahr bislang nur ins Gesicht lachen und sagen: Das war alles? Bisschen erbärmlich, oder? Kannst mal anfangen, in der zweiten Hälfte so richtig was wieder gut zu machen!

Playlist
Sogar musikalisch ist irgendwie gerade alles durcheinander. Klingt aber gut.

Notizen

  1. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/stuttgart-ausschreitungen-wutbuerger-party-gewalt-polizei-elend
  2. https://www.youtube.com/watch?v=QSyPy9vdA_s
  3. https://www.youtube.com/watch?v=3tR6mKcBbT4

1 Kommentar zu „Halbzeit, 0:5 hinten“

  1. Pingback: 2020 in the Books - kOpinion

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