Change is possible

Meine Güte bin ich froh, dass wir erst gestern angefangen haben, auf Netflix Narcos zu schauen. Die dramaturgisch etwas angespitzte Geschichte über den berüchtigten Drogenboss Pablo Escobar hat in den vergangenen Jahren die zweitgrößte Stadt Kolumbiens ins kollektive Bewusstsein katapultiert. Und auch ohne Hollywood’esque Übertreibungen läßt einem die Geschichte der Stadt, die eng mit den Narcotraficantes, den Drogenschmugglern verbunden ist, teilweise das Blut in den Adern gefrieren. Doch wer im Jahr 2019 unvoreingenommen in die Provinz Antioquia reist, der lernt etwas ganz Anderes, Überraschendes kennen.

Ein echt nicer Kessel

Wer vom Flughafen Rionegro den Bus in die Stadt nimmt, kommt nach einer Weile auf die Abfahrt in den Talkessel von Medellín, die entfernt an die Stuttgarter Weinsteige erinnert. Nur ist die darunter liegende City etwa fünf Mal so groß wie das schwäbische Provinznest und hat einen guten öffentlichen Nahverkehr. Überhaupt, die Metro, die Seilbahnen hoch über der Stadt… Viel hat sich getan in den letzten zehn, fünfzehn Jahren. Es wurde clever investiert in Infrastruktur, immer dort, wo es den meisten Impact für die meisten Leute zu haben schien. Und das ist nur eine Seite der erstaunlichen Transformation, die diese Stadt von einer der gefährlichsten der Welt zur modernsten des heutigen Kolumbiens hingelegt hat.

Metrocable in Medellín – Clevere Investitionen in strukturschwachen Problemvierteln

Dementsprechend stolz sind die Menschen auf ihre Stadt. Das sieht man den Leuten an. Und das spürt man. In den Gegenden, in denen man sich bewegt, fühlt man sich absolut sicher. In den U-Bahnen ist nicht ein einziger Sitz beschmiert (weil, so die Wahrnehmung der Leute, „die haben wir gebaut, für unsere Stadt“). Klar gibt es Viertel in die sich Gringos nicht verirren sollten, Medellín ist immer noch unter (nur noch) drei Kartellen aufgeteilt, und nachts hört man gelegentlich Schüsse. Aber von den horrenden Mordraten mit 6.658 Fällen in 19911 ist man mittlerweile weit entfernt. Tatsächlich sind es zwar in den letzten Jahren immer noch etwa 600 Fälle im Jahr, was aber für lateinamerikanische Großstädte keine Seltenheit ist und in Kolumbien nach Mordrate (auf 100.000 Einwohner gerechnet) nicht mal mehr für die Top 3 reicht2. Dazu kam für uns noch ein fantastisches Hostel in El Poblado, einem eher chiceren Viertel, in dem die meisten Hotels und Hostels zu finden sind, und fertig war ein wirklich angenehmer Mix für die fünf Tage Aufenthalt.

Comuna 13 – Wahrzeichen des Wandels

Gleich am ersten Abend waren wir geflasht von der großen Auswahl hipper Restaurants im Poblado, und landeten gleich mal in einer veganen Location der Spitzenklasse, die es mit jedem Hipsterschuppen in Prenzelberg locker aufnehmen kann. Achso, vegan war natürlich kein Muss, aber eigentlich eher so aus Zufall hat sich unsere Ernährung während der ganzen Reise mit ein, zwei Ausnahmen auf komplett vegetarisch umgestellt. Sind da so reingerutscht. Wer die lateinamerikanische Küche kennt, weiß aber auch, dass dies die Auswahl bei der Bestellung oft doch ziemlich einschränkt.

Am ersten ganzen Tag wurde ausgeschlafen, Wäsche gewaschen und der Nachmittag im Parque Explora verbracht, einer Mischung aus Aquarium, Terrarium und Erlebnisausstellung. Der zweite Tag stand im Zeichen dessen, was wohl fast jeder Tourist in Medellín macht: Einer Tour in die berüchtigte Comuna 13. Wie schon in Bogotá läßt man sich am besten im Rahmen einer „Free Walking Tour“ von Locals durch die Viertel führen („free“ heißt in dem Fall, dass man am Ende der Führung ein faires Trinkgeld gibt). Und da hatten wir einen richtigen Glücksgriff.

Parque Explora
Neben Fischen und Schlangen gibt es im Parque Explora auch Ausstellungen zu Raum und Zeit zu sehen

Der 21-jährige Stiven, der seine Firma Storytellers Medellín3 vor drei Jahren gegründet hat und mittlerweile acht Guides beschäftigt, führte uns zusammen mit einem Dutzend Gringos in tadellosem Englisch durch das hügelige Stadtviertel – und das mit Leidenschaft. Schließlich war er in der einst gefährlichsten Comuna Medelliíns aufgewachsen und hat selbst miterlebt, wie in seiner Jugend nach 17 Uhr Ausgangssperre herrschte, er als Jugendlicher gewisse Straßen nicht mehr passieren durfte (weil rivalisierende Banden dort „unsichtbare Grenzen“ gezogen hatten) und in regelmäßigen Abständen das Militär zu erfolglosen Räumungsaktionen einrückte.

Warum aber waren diese drei von Armenbehausungen überzogenen Hügel über Jahrzehnte das emblematische Bild von Medellíns Kriminalitätsproblem? Neben starker Kontraste zwischen Arm und Reich, Einfluss der FARC und der AUC hatte das Problem eine ganz praktische Wurzel: Wer die Comuna 13 kontrolliert, kontrolliert die einzige Schmuggelroute raus aus der Stadt in Richtung von Kolumbiens Pazifikküste. Das Kokain aus den östlich und südlich der Stadt gelegenen Produktionsstätten musste durch diesen bemitleidenswerten Flecken Erde, um zu seiner Verschiffung und schließlich in die Nasen der Gringos zu gelangen.

Heute spazieren Touristen durch die Gegend, junge Künstler verarbeiten das Erlebte mit riesigen Graffitis, man hört Musik, sieht Tanz und läßt sich entspannt auf den Outdoor-Rolltreppen einen der Hügel hochfahren (wieder eine dieser cleveren Investitionen) Die sind übrigens zusammen mit denen in Hongkong die einzigen der Welt. Ich kann also mit Fug und Recht behaupten, bereits mit allen öffentlichen Outdoor-Rolltreppen der Welt gefahren zu sein. Aber zurück zum Thema: Comuna 13, und besonders die Inbrunst, mit der Stiven von seinem Viertel erzählt, läßt einen unweigerlich mit einem wohligen Optimismus zurück und der Überzeugung, dass Veränderungen zum Guten möglich sind.

Ein Blick über das ehemals gefährlichste Vierte Medellíns
Ein Blick über das ehemals gefährlichste Vierte Medellíns
Mit Graffiti wird in der Comuna 13 Geschichtsbewältigung betrieben
Mit Graffiti wird in der Comuna 13 Geschichtsbewältigung betrieben

720 Stufen und der Parque Arvi

Nach soviel Input mussten auch mal wieder die Beine ran: Ein beliebter Tagesausflug von Medellín ist das etwa zwei Stunden mit dem Bus entfernte Örtchen Guatapé, das unter anderem dadurch Bekanntheit erlangt hat, dass vor seinen Toren ein mehrere hundert Meter hoher Felsen rumliegt. Wie ein zu groß geratener Findling liegt El Peñol da und ist definitiv lustig anzuschauen. An der Außenseite erscheint die Zickzacktreppe mit ihren 720 Stufen wie angeklebt. Nach der Ciudad Perdida natürlich ein Klacks für uns. Von dort oben hat man einen wunderbaren Überblick über die kleine Seenplatte, an der auch Guatapé selbst liegt und vor der man sich durchaus vorstellen kann, dass reiche Paisas (wie die Bewohner Medellíns genannt werden) dort gerne ihr Weekend-Getaway verbringen.

Der El Peñol in Guatpé
Der El Peñol in Guatpé
Ausblick vom Peñol über die Seenplatte von Guatapé
Ausblick vom Peñol über die Seenplatte von Guatapé

Reist man früher am Tag und oder für mehrere Tage an, mögen Jetski-Rides und Bootausflüge einen locken, für uns allerdings waren die verbleibenden Stunden ein netter Spaziergang in einem sehr bunten, hübschen Städtchen, dass so ein bisschen Kurort-Flair versprüht. Bunt ist dabei übrigens wörtlich gemeint, denn die meisten Holzfassaden sind liebevoll angestrichen.

Die bunte Innenstadt lädt zum Verweilen ein
Die bunte Innenstadt lädt zum Verweilen ein
Entspannter Nachmittag mit Tagesausflug
Entspannter Nachmittag am Tagesausflug

Am letzten ganzen Tag in der Stadt wurde passenderweise zum Frühstück (Anstoß 8:30 Ortszeit) der Werder-Sieg gegen Augsburg übertragen. Danach sind wir entspannt mit Medellíns längster Metrocable-Linie über den Kesselrand in den Parque Arvi geschwebt. In diesem weitläufigen Waldgebiet lädt zunächst mal ein kleines Märktchen direkt an der Seilbahnstation zum Schlemmen ein, bevor man auf vielen Routen entweder mit Guide oder auf eigene Faust den Park erkunden kann. Unsere kleinen Runde zu zweit durch den Mischwald war schon fast ein Urlaub an sich, so sauber die Luft und so weit weg vom Lärm der Stadt.

Auszeit von der Stadt im Parque Arvi
Auszeit von der Stadt im Parque Arvi
Einfach mal die Natur lieb haben
Einfach mal die Natur lieb haben

So gestärkt und abends mit dem vorher Sabrina versprochenen Sushi versorgt, ging es am nächsten morgen früh raus und zum Terminal Sur, dem südlichen der beiden großen Busbahnhöfe der Stadt. Von dort ging es in acht Stunden und unzähligen magenquälenden Kurven durchs Hochland nach Salento, wo wir aktuell noch immer sind, und uns mit einer Mischung aus Grippe und Wandern beschäftigen. Aber dazu wann anders mehr…

Notizen

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Medell%C3%ADn#Kriminalit%C3%A4t
  2. https://www.watson.ch/wissen/die%20welt%20in%20karten/144650080-diese-karte-zeigt-die-gefaehrlichsten-staedte-der-welt
  3. https://www.facebook.com/storytellersmedellin/

1 Kommentar zu „Change is possible“

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