Ökosozialliberales Neustärtchen

Hat man Anfang des Jahres in die Umfragen zur Bundestagswahl 2021 geschaut, konnte einem Angst und Bange werden ob der Lethargie dieses Landes. Über die CDU habe ich mich bereits länglich ausgelassen. Auch aus dem damaligen Widerstand gegen das, was uns da drohen könnte. Bitte nicht falsch verstehen, die Wichtigkeit auch konservativer Meinungsbildung im Rahmen einer bürgerlichen Partei stelle ich nicht in Abrede. Aber was die CDU nach 16 Jahren anzubieten hatte, war korrupt, machtversessen und soweit vom notwendigen Fortschritt entfernt wie die SpVgg Greuther Fürth von der Herbstmeisterschaft der Bundesliga1.

Koalitionstitel
Kann man erstmal so stehen lassen.

Waren die Gefühle beim Blick auf das Tableau am Wahlabend noch eher gemischt, kann man nur umso überraschter, ja fast hoffnungsvoll auf das schauen, was sich da jetzt Anfang Dezember als Regierung geformt hat. Eine ökosozialliberale Koalition, deren Koalitionsvertrag sogar schon den Namen trägt „Mehr Fortschritt wagen“2. Das Papier ist keineswegs perfekt, ambitioniert ist es allemal. Man kann nur hoffen, dass gerade wegen einiger scheinbarer Widersprüche zwischen den Parteien die harsche Regierungswirklichkeit noch etwas übrig lässt, von der guten Lektüre. Wie lang hat in diesem Land keiner mehr ernsthaft über progressive Politik gesprochen!

Gelb is back

Klar, rot-grün wäre gut gewesen. Rot-rot-grün vielleicht noch besser. Aber die politische Linke vergeigte einmal mehr einen Wahlerfolg mit innerer Zerrissenheit. Und ja, auch den Grünen darf man vorhalten, dass sie zu blöd waren im Saarland eine Landesliste korrekt aufzustellen. Um so überraschender, dass nun ausgerechnet die FDP Olaf Scholz zum Kanzler gemacht hat.

Überraschend, weil seit 1982, dem Bruch der rot-gelben Koalition von Helmut Schmidt und dem raschen Seitenwechsel der Liberalen eigentlich nur noch eine Koalition unter Beteiligung der FDP denkbar war: die mit der Union. Als natural fit zu den Konservativen sah sich das Klientel der Besserverdienenden in den vergangenen 40 Jahren, die im Zeichen des neoliberalen Umbaus standen. Schade eigentlich, denn wenn man die FDP nicht nur auf ihre Oberschicht-Wähler, Steuererleichterungspolitik und turbokapitalistischen Volten (Mövenpick, anyone?) reduziert, liegt darunter eine ganz charmante Idee.

Lieberalismus, die Idee der gerechten Freiheit und der Selbsverantwortlichkeit im Sinne von Locke, Smith und Rawls taugt mir. Damit das allerdings gut für eine Gesellschaft ausgeht, braucht es ein funktionierendes System mit Rahmenbedingungen die Auswüchse korrigieren. Die zur zynischen Farce verkommende Phrase „der Markt regelt das“ wird nur noch von neoliberalen Idioten uneingeschränkt verwendet.

Zur effizienten Verteilung von Ressourcen gibt es wohl nichts besseres als Marktwirtschaft. Aber in unserem Wirtschaftssystem funktioniert der Markt nicht ohne ein zweiseitiges Korrektiv: Denn einerseits gibt es strukturelle soziale Ungerechtigkeiten und fehlende Chancengleichheit. Andererseits benötigt ein funktionierender Markt eine korrekte Preisbildung. Und hier versagt er ebenfalls: Ökologische Externalitäten werden nicht eingepreist. Der Schaden, den klimaschädliches Wirtschaften anrichtet, zahlt meistens und längst nicht umfänglich genug der Verursacher, sondern die Allgemeinheit. Etwas konkreter: Die Menschen in Erftstadt oder im absaufenden Palau.

Wer jetzt wie viel?

Nun kann man leichtfertig sagen, die FDP habe in den Koalitionsverhandlungen übermäßig viele ihrer Punkte durchdrücken können (z.B. der Verzicht auf Steuererhöhungen, die Besetzung des Finanzministeriums). Während die Grünen sich eher unter Wert verkauft hätten (kein Tempolimit, kein klarer Kurs auf die Paris-Ziele mit den verhandelten Maßnahmen). Ja, vielleicht. Aber die Richtung stimmt.

Der Untertitel enthält die Worte Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Jeder Punkt für sich genommen ist unfassbar wichtig. Da wird der eine oder andere Zielkonflikt unvermeidbar sein. Einig sind sich alle beteiligten aber dennoch darin, dass es um Fortschritt geht. Mut, Dinge anzupacken. Und nicht, das Geschehen der Welt reaktiv über sich ergehen zu lassen und dabei möglichst den größten Vorteil für sich herauszuschlagen.

So bringt jede beteiligte Partei phantastische Aspekte in das Papier und hält extreme Auswüchse der anderen in der Balance. Beispiel gefällig: Ab sofort 12 Euro Mindestlohn – unter einer Regierung mit der FDP! Freiheitliche Netzpolitik-Agenda mit Absage an anlasslose Vorratsdatenspeicherung und Forderung nach einer Überwachungsgesamtrechnung – alles Punkte, bei denen die Haltung der SPD immer ambivalent war und nun die liberale Haltung von Grünen und FDP die Oberhand gewinnt. Und – da haben sie alle drei das Herz am (nicht-)rechten Fleck: Eine Innenministerin, die sofort und glasklar den Rechtsextremismus als größte Gefahr für die innere Sicherheit des Landes benennt – weil Nazis töten. Und endlich mal keiner der schreit: Aber auf der Schanze hat neulich ein Linker eine Scheibe eingeworfen!

Ist jetzt alles gut?

Ich klinge wie ein absoluter Ampel-Fanboy. Nein, das bin ich nicht. Es gibt viele Punkte, die zu wenig Beachtung finden, zu schwach formuliert sind oder es gar nicht in das Regierungsvorhaben geschafft haben (Bürgergeld, anyone?). Darüber hinaus haben wir nun einen Kanzler, der maßgeblich in zwei Finanzskandale (CumEx, Wirecard) verwickelt war und als Hamburger Bürgermeister tödlichen Brechmitteleinsatz und G20 zu verantworten hat. Da ist eine Klientelpartei an der Regierung, die sich mit Händen und Füßen gegen gerechte Besteuerung reicher Menschen wehrt und deren Klimaprogramm aus Synthetik-Kraftstoff für Privatjets besteht.

Aber man muss halt auch mal sehen, woher wir kommen! Wie unsicher man am Abend des 26. September noch auf die Bildschirme geschaut hat. Demokratie ist Kompromiss und „Politik die Kunst der Möglichen“ (Bismarck). Und man darf nach fast zwei Jahren Pandemie und 16 Jahren CDU doch auch mal optimistisch sein, dass diese Koalition nicht der schlechteste Kompromiss ist und durchaus einiges möglich machen kann. Sowohl im ökologischen, im sozialen, als auch im liberalen Sinne.

Herbst-Playlist
Musik darf ja auch im grauen Herbst nicht fehlen.

Notizen

  1. Ich möchte betonen, dass ich mich auf deutsche Verhältnisse beziehe. Im Vergleich stehen wir super da. Für Österreich muss ich mich bspw. gerade schämen. Ungarn oder Polen noch als echte Demokratien zu bezeichnen wäre vermessen. Aber ich finde, man sollte sich bei seinen Ambitionen am Besten orientieren. Und. nicht daran, dass man immerhin nicht der Schlechteste ist.
  2. https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

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